Beide Herren waren Mitte dreißig und sportlich schick gekleidet. Auf einen Camping-Urlaub sollte es gehen und sie bräuchten ein Zelt. Damals arbeitete ich noch in einem Kölner Outdoor-Geschäft, um etwas Geld neben dem Studium zu verdienen. Ich führte die beiden also in die Zeltabteilung und begann mit meinen üblichen Fragen: Wohin soll es gehen, gibt es besondere Anforderungen, soll es etwas für Gelegenheitscamper sein oder eher für den Dauereinsatz; typische Versuche um in meinem Kopf eine Art Anforderungsprofil zu erstellen.
Die Herren antworteten auch bereitwillig und ich zeigte ihnen verschiedene Zelte, die mir für ihren Einsatzzweck als passend erschienen. Währenddessen erläuterte ich die Materialien und lobte die tolle Wasserdichtigkeit des einen, oder den schnellen Aufbau des anderen Modells.
Fakten interessieren im Verkauf nur wenige
Beide nahmen sich viel Zeit alles genau unter die Lupe zu nehmen, konnten sich aber irgendwie nicht ganz einig werden, bzw. schlenderten unschlüssig von Zelt zu Zelt. Ich fuhr fort mit meinem Faktenwissen und stellte zwischendurch immer wieder Fragen, um Ihren Zweifeln auf den Grund zu kommen. In der Regel kam ich auf diesem Wege gut zurecht, meine Verkaufszahlen sprachen für mich.
Da sich das Verkaufsgespräch inzwischen aber bereits ziemlich in die Länge zog, war ich froh, meinen Chef Boris durch die Abteilung gehen zu sehen. Unter dem Vorwand etwas im Katalog nachschauen zu müssen entfernte ich mich kurz von den Kunden und bat Boris um Hilfe. Ich käme bei den beiden einfach nicht zum Abschluss.
Ein Produkt für das Ego des Kunden
Mein Chef fragte mich was sie in etwa suchten, sah sich die zwei kurz an und schlenderte selbstbewusst in ihre Richtung. Dann zeigte er auf ein großes und extrem teures Expeditionszelt und sagte mit leicht kölschem Einschlag: „Wenn Ihr Euch für das Zelt noch flache Camping-Stühle holt, passen hier sechs Leute und ein Fässchen Bier rein". Die zwei Herren strahlten, als hätte er ihnen den heiligen Gral gezeigt. „Wenn den anderen in den holländischen Dünen dann die Zelte wegfliegen, sitzt Ihr davor und trinkt ein kühles Blondes".
Ich traute meinen Ohren nicht. Boris hatte doch nicht gerade allen Ernstes unser teuerstes Expeditionszelt, was eigentlich für das Basecamp am Mount Everest entworfen worden war, zwei Jungs zum Biertrinken in den holländischen Dünen empfohlen?! Doch, hatte er. Und er hatte Recht damit. 15 Minuten später verließen die beiden mit einem Expeditionszelt, sechs Campingstühlen und hochroten Ohren vor Freude den Laden.
Der Kunde muss es wollen, nicht brauchen
Mein Chef hatte in diesem Fall schnell erkannt, um welche „Art" Kunden es sich handelte. Dass es hier nicht um das objektiv passende Modell ging, sondern um eines, was die subjektiven und emotionalen Bedürfnisse der Kunden befriedigte. Das schloss auch ein gewisses Geltungsbewusstsein nicht aus. Er musste ihnen auch kein teures Zelt „andrehen", sondern nur erkennen, dass der Preis überhaupt nicht ausschlaggebend sein würde. Die beiden waren jedenfalls happy mit ihrem Kauf und würden es bleiben. Das Zelt war ja in der Tat sehr hochwertig, wenn auch technisch natürlich total übertrieben. Bei einem Zelt bedeutet dieses "Mehr an Technik" aber keine zusätzliche Komplexität, sondern normalerweise weniger Gewicht, mehr Windstabilität, etc., also nichts was sich auch negativ auswirken könnte. Ein Kauf also, dem ich guten Gewissens zusehen konnte.
Ohne die nötige Menschenkenntnis wäre es nie zu diesem Abschluss gekommen. Boris hat nebenbei nie BWL studiert oder einen kaufmännischen Abschluss gemacht: „Das wußte schon mein Vater, den Verkäufer muss man im Blut haben, da hilft Dir kein Studium der Welt", pflegte er zu sagen. Ich würde sagen, im direkten Verkaufsgespräch hat er zu 100 Prozent recht, über mehrstufige Vertriebsprozesse hilft eine gute CRM-Software. :)