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Psychologie für KMU: Der Ankereffekt

Mit dem richtigen Anker kann sich alles verändern.

Der Psychologe Daniel Kahneman beschreibt in seinem einflussreichen Bestseller “Schnelles Denken, langsames Denken” den Ankereffekt, auch Ankerheuristik genannt, - ein Phänomen, von dem jeder Vertriebler einmal gehört haben sollte.

Die Ankerheuristik spielt nicht nur bei Preisverhandlungen eine wichtige Rolle, sondern kommt an vielen Stellen im Alltag zum Einsatz, wenn es um Zahlen und Schätzungen geht. Wir erklären Ihnen in diesem Artikel, was es damit auf sich hat und wie Sie das Wissen um die Funktionsweise des “Ankers” für sich nutzen können.

Definition - Was ist die “Ankerheuristik”?

Unter einem Anker versteht Daniel Kahneman jede beliebige Zahl, an der man sich orientiert. Wenn Sie beispielsweise jeden Sonntagmorgen Brötchen beim Bäcker um die Ecke kaufen gehen und eines 30 Cent kostet, sind diese 30 Cent Ihr Anker für einen typischen Brötchenpreis und Sie werden sich wundern, wenn ein Brötchen woanders 1,30 Euro kostet.

Eine Heuristik ist kurz gesagt eine Faustregel - wenn man sich mit einer Sache nicht gut auskennt, nutzt man vereinfachende Faustregeln, um ein Urteil darüber zu fällen (wie zum Beispiel beim Halo-Effekt: die Verpackung sieht gut aus - wir schlussfolgern deshalb, dass die Sache an sich und ihre Qualität sicherlich auch gut sind).

So ist die Ankerheuristik - auch Ankereffekt genannt - eine Art Denkabkürzung, bei der eine Zahl genannt wird, die als Orientierungswert für eine Schätzung angenommen wird.

Mahatma Gandhi und die Ankerheuristik

Das Spannende an der Ankerheuristik ist, dass jede beliebige Zahl als Anker fungieren kann - selbst dann, wenn sie offensichtlich dem Zufall unterliegt und keinen Nutzen für die gestellte Frage aufweist. Das ist nicht ungefährlich, denn wir lassen uns von diesen Anker-Zahlen beeinflussen, und wenn sie überhaupt keinen Nutzen für die Frage haben, können sie zu völlig falschen Einschätzungen führen.

Das folgende Beispiel veranschaulicht das sehr einprägsam:

War Mahatma Gandhi älter oder jünger als 144, als er starb?

Wie alt war Mahatma Gandhi, als er starb?

In psychologischen Tests über die Ankerheuristik hat man Versuchspersonen diese Fragen gestellt. Der Anker ist hier das Alter von 144 - und selbstverständlich ist Ihnen klar, dass Gandhi jünger als 144 gewesen sein muss, als er gestorben ist. Aber wie viel jünger war er wohl? Wenn mit der ersten Frage nach seinem Sterbealter gefragt wird, schätzen es die meisten Leute viel höher ein, als es eigentlich gewesen ist. Warum?

Der Anker 144 lässt in den Köpfen das Bild eines sehr alten Mannes entstehen. Auch wenn 144 offensichtlich zu alt und aus der Luft gegriffen ist, lassen wir uns von dieser hohen Zahl beeinflussen. Was hier im Kopf abläuft, nennt sich Priming (lesen Sie dazu auch unseren ausführlichen Artikel zum Priming-Effekt). Das Priming läuft dabei unbewusst hab und deshalb ist der Effekt so robust - wir merken nämlich gar nicht, dass wir durch die Zahl 144 beeinflusst werden, weil wir nicht darüber nachdenken und wahrscheinlich auch nicht damit rechnen.

Gandhi war übrigens 79 Jahre alt, als er starb.

Welche Rolle die Ankerheuristik im Alltag spielt

Wenn man sich bei der Schätzfrage nach Gandhis Sterbealter vertut, ist das natürlich nicht so dramatisch (es sei denn, Sie sitzen auf dem Stuhl bei Günther Jauch und es handelt sich um die Millionen-Frage). Wenn man das Phänomen auf den Alltag überträgt, sind die daraus resultierenden Folgen jedoch sehr bedeutsam.

Viele Spendenorganisationen nutzen das Anchoring geschickt für sich. Oft wird bei einem Spendenaufruf beispielsweise die Info mitgeliefert “Schon 10 Euro helfen!” Die 10 Euro bilden den Anker und damit den Orientierungswert für alle, die über einen angemessenen Spendenbetrag nachdenken.

Stellen Sie sich nun vor, der Satz lautet: “Schon 50 Euro helfen!” - der Anker von 50 Euro ist deutlich höher als der erste und mit den bisherigen Erkenntnissen über den Ankereffekt wissen Sie, dass auch dieser als Orientierungswert für die Spendenhöhe genutzt wird.

Wie werden wohl mehr Spenden gesammelt?

Selbst wenn es um exakt die gleiche Spendenaktion geht und sich nur die Geldbeträge in dem Satz “Schon xx Euro helfen” unterscheiden, werden mehr Spenden zusammenkommen, wenn der höhere Anker von 50 Euro gesetzt wird - und das ”nur” aufgrund eines simplen psychologischen Effekts. Wenn eine Wohltätigkeitsorganisation das für sich nutzen will, sollte sie also einen hohen, aber trotzdem noch realistischen Anker für den empfohlenen Geldbetrag setzen, um möglichst viele Spenden einzusammeln.

Im Alltag begegnen uns täglich viele Anker, ohne dass wir es merken. Beispielsweise haben wir alle einmal eine erste Preiserfahrung mit Benzin gemacht und diese wird unsere folgenden Schätzungen beeinflussen, wenn wir beurteilen sollen, ob das Benzin gerade günstig oder teuer ist.

Auch bei Rabattaktionen spielen Anker eine Rolle. Während der Sale-Zeit werben die Geschäfte mit Sätzen wie “bis zu 50% reduziert”. Wenn wir uns von diesen Rabatten anlocken lassen, haben wir beim Stöbern durch den Laden den Anker “50% billiger” im Kopf und erwarten günstige Preise. Oft sind aber die wenigsten Dinge so stark reduziert und bei den meisten gibt es nur 20% Rabatt - allerdings wird der Anker dafür sorgen, dass uns allein die Tatsache, dass etwas reduziert ist, positiv stimmt. So schlagen wir selbst bei einem niedrigeren Rabatt eher zu, weil der Anker in unserem Kopf sitzt, “alles ist so viel günstiger” schreit und unser Kaufverhalten beeinflusst.

Genauso sind Geschwindigkeitsbegrenzungen ein Anker. Auf der Autobahn gilt eine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. Natürlich kann man auch schneller fahren, der Anker 130 sorgt jedoch dafür, dass der ein oder andere ein schlechtes Gewissen hat, sich zu weit davon zu entfernen. Hier hat der Anker einen positiven Effekt, da er die Autofahrer dazu bewegt, ihre Geschwindigkeit zu begrenzen.

Bei der Frage nach der Höhe des Trinkgeldes, das man im Restaurant hinterlässt, kann ebenfalls ein Ankereffekt zum Tragen kommen. In den USA herrscht die ungeschriebene Regel von “10% Tip” - ein klarer Fall eines Ankers. Wenn Sie mit Freunden essen gehen und jeder am Ende nacheinander getrennt zahlt, setzt der erste mit der Höhe seines Trinkgeldes den Anker, an dem sich alle anderen - bewusst oder unbewusst - orientieren. An diesem Beispiel wird ein wichtiges Kennzeichen der Ankerheuristik deutlich: wer zuerst den Anker setzt, bestimmt damit, in welche Richtung es zahlentechnisch geht. Wie bedeutend das im Arbeitsalltag, im Vertrieb und bei Verhandlungen sein kann, erahnen Sie sicherlich schon.

Der Anker im Vertrieb/im Job - wer zuerst kommt...

Wann immer es um Produktneueinführungen, um Gehaltsvorstellungen und um Preise im Allgemeinen geht, ist der Ankereffekt nicht weit entfernt. Grundsätzlich gilt die goldene Regel: Das Unternehmen, das zuerst kommuniziert bzw. die Person, die zuerst einen Preis nennt, ist im Vorteil - weil es/sie den Anker als Ausgangspunkt setzt und damit bestimmt, in welchem Rahmen sich die Verhandlungen zahlentechnisch bewegen.

Wenn Sie über Ihre eigene Gehaltsvorstellung sprechen oder wenn es um einen Mitarbeiter geht, über dessen Einstellung Sie entscheiden, machen Sie den ersten Schritt. Wenn die erste Zahl im Raum steht, wird der Rest sich daran orientieren und wahrscheinlich nicht besonders weit davon abweichen.

Das Ganze funktioniert bei Preisverhandlungen aller Art. Denken Sie zum Beispiel an einen Autoverkauf - sobald der erste Preis genannt wurde, kann man zwar noch in beide Richtungen verhandeln, wahrscheinlich aber nicht das Doppelte oder die Hälfte des erstgenannten Preises erzielen.

Es kommt darauf an, auf welcher “Seite” Sie sich befinden und wie Sie den Ankereffekt am besten für sich nutzen können. Wenn Sie einen Kauf planen und sich dafür verschiedene Angebote einholen, geben Sie - entweder nur sich selbst, oder dem Anbieter - ein Budget vor. So haben Sie Ihre persönliche Preisgrenze vor Augen und geraten darüber hinaus nicht in eine unangenehme Situation, wenn der Preis des Anbieters plötzlich viel höher ist, als Sie dachten.

Wenn Sie umgekehrt auf der Seite desjenigen sind, der etwas verkaufen möchte, gilt: nennen Sie den ersten Preisvorschlag und geben Sie damit eine allgemeine Richtung vor, in die sich die Verhandlungen bewegen sollen.

Wie man den Ankereffekt umgehen kann

Je nachdem, in welcher Position Sie sich befinden, kann der Ankereffekt Fluch und Segen sein. Sie können ihn bei Preisverhandlungen für sich nutzen, werden aber an vielen Stellen auch unbewusst davon beeinflusst, wie beispielsweise bei der 50%-Rabattaktion. Deshalb haben wir ein paar Tipps zusammengestellt, wie Sie den (negativen) Einfluss des Anchorings vermeiden können.

Starbucks ist ein Beispiel für ein Unternehmen, das den Ankereffekt geschickt ausgehebelt hat. Wenn Sie sich nach einem typischen Preis für einen Coffee to Go fragen, dann liegt Ihre Schätzung sicherlich nicht bei 5-6 Euro, sondern eher bei 2-3 Euro. Demnach sollte theoretisch kein Mensch bei Starbucks Kaffee kaufen. Ein Blick in die Innenstadt beweist uns natürlich das Gegenteil. Wieso ist Starbucks so erfolgreich?

Das Unternehmen hat es geschafft, eine völlig neue Produktkategorie zu erfinden. Man kauft dort schließlich nicht nur Kaffee, sondern in einem Becher, auf dem der eigene Name steht, einen Medium Iced Chai Cinnamon Flavoured Latte mit Sojamilch und damit ein gesamtes Lebensgefühl - und dafür scheinen 5 Euro gerechtfertigt zu sein. Der Anker von 2 Euro für einen Kaffee existiert im Falle von Starbucks nicht länger, da die Starbucks-Produkte für viele Menschen nicht einfach “nur Kaffee” sind.

Übertragen auf den Unternehmensalltag heißt das also, dass man durchaus vom allgemeinen Anker abweichen kann, aber auch, dass in dem Falle ein hervorstehendes Alleinstellungsmerkmal (USP) und ein gutes Marketingkonzept unumgänglich sind, um den höheren Preis zu rechtfertigen.

Wenn es um Gehaltsvorstellungen oder um den Preis für ein Angebot geht, das Sie einem Kunden unterbreiten, ist ein guter Tipp, selbst den Anker zu setzen. Darüber kann natürlich immer noch verhandelt werden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die letztendliche Zahl nahe an Ihrem Anker befinden wird, ist ziemlich hoch.

Eine weitere Möglichkeit, den Ankereffekt zu umgehen, ist so simpel wie wirksam: Denken Sie das Gegenteil. Wenn Ihnen ein Angebot gemacht wird oder Sie mit einer Zahl konfrontiert werden, machen Sie sich den Ankereffekt bewusst und fragen Sie sich, was Sie ohne den Anker erwartet hätten. Das ist vielleicht nicht immer einfach, kann aber dafür sorgen, dass wir uns im Alltag weniger von Ankern beeinflussen lassen.

Fällt Ihnen ein Beispiel aus Ihrem Alltag oder Ihrem Job ein, in dem Ihnen der Ankereffekt begegnet ist? Hinterlassen Sie uns gerne einen Kommentar dazu!

   

Sie möchten mehr über spannende psychologische Phänomene lesen? In unserer Serie “Psychologie für KMU” sind außerdem diese Artikel erschienen:

  1. Zwei Systeme, mit denen wir denken: System 1 und System 2
  2. Priming und kognitive Leichtigkeit
  3. Der Halo-Effekt
  4. Der Ankereffekt
  5. Klarer Fall von Selbstüberschätzung?

Autorin
Feline Heck