Der Psychologe Daniel Kahneman unterscheidet in “Schnelles Denken, langsames Denken” zwei kognitive Systeme: System 1 und System 2. Dabei geht es um zwei verschiedene Denkmodi - das schnelle und das langsame Denken -, von denen das Buch seinen Namen hat. Alle Erkenntnisse Kahnemans, über die er in seinem Buch berichtet, bauen auf der Unterscheidung von schnellem und langsamem Denken auf und sind sowohl im Arbeitsleben, im Marketing und im Vertrieb, als auch persönlich für jeden einzelnen von uns relevant. Durch die Erkenntnisse über System 1 und System 2 können wir besser verstehen, wie wir handeln - und wieso wir manchmal völlig unvernünftige Entscheidungen treffen.
Wir erfahren System 1 und System 2 ständig am eigenen Leib. Die Zusammenarbeit der beiden Systeme ist faszinierend und ihre Funktionsweise erleichtert uns den Alltag ungemein. Allerdings führt sie auch zu gravierenden Fehlern. Aus diesem Grund werfen wir in diesem Artikel einen genaueren Blick auf das schnelle und das langsame Denken.
System 1 - das schnelle Denken
System 1 beschreibt die Vorgänge und Handlungen, die uns “einfach so" widerfahren und die ganz automatisch passieren, ohne dass wir uns dafür anstrengen müssen. System 1 ist für das schnelle Denken zuständig.
Wenn wir unser Handy entsperren oder im Supermarkt mit der EC-Karte zahlen und unsere PIN eingeben, dann ist System 1 aktiv - wir müssen nicht darüber nachdenken, diese Tätigkeiten passieren mühelos, intuitiv und unbewusst. Genauso ist es, wenn wir mit dem Auto nach der Arbeit nach Hause fahren: Der Weg ist bekannt, Autofahren haben wir gelernt, wir wissen wo Gas, Bremse und Kupplung sind und wie man schaltet, ohne dass wir immer wieder jeden einzelnen Schritt im Kopf durchgehen müssen - zum Glück!
System 1 kann außerdem direkt eine Gefahr erkennen, sodass wir intuitiv darauf reagieren und im Zweifelsfall flüchten können (das war vielleicht früher in der Steinzeit von größerer - weil lebenswichtiger - Bedeutung, funktioniert heute aber immer noch). Wir lesen in der Mimik einer Person schnell etwas über ihren aktuellen Gemütszustand, wir reagieren emotional und wir unterscheiden rechts und links, ohne überlegen zu müssen.
Es geht also beim schnellen Denken um Dinge, die angeboren sind oder die wir erlernt haben. So sind auch Lesen, Schreiben oder Fahrradfahren System 1-Tätigkeiten, sobald sie oft genug wiederholt und dadurch verinnerlicht wurden.
Der Vorteil des Systems 1, des schnellen Denkens, ist, dass es uns schnelles Handeln ermöglicht. Stellen Sie sich vor, Sie müssten immer über jede kleinste Handlung genau nachdenken und alles mit voller Konzentration tun - das wäre wahnsinnig anstrengend und wir wären unendlich langsam dabei. Der Nachteil von System 1 ist jedoch: Es ist extrem fehleranfällig, weil es so schnell - manchmal zu schnell - reagiert. Das kann zu falschen Entscheidungen und Fehlurteilen führen, die wir tatsächlich alle begehen. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, uns davor zu schützen:
System 2 - das langsame Denken
System 2 ist der Gegenspieler zu System 1 und es ist für das langsame Denken zuständig. Hier geht es nicht um Dinge, die uns widerfahren, sondern um solche, die wir aktiv steuern und beeinflussen. System 2 beschreibt das Denken des bewussten “Ichs”.
Es ist aktiv wenn wir lernen, wenn wir balancieren und auch dann, wenn wir mit aller Mühe nach dem Mittagessen gegen unsere Müdigkeit ankämpfen. Es geht nicht um Intuition wie bei System 1, sondern um Intention und um bewusste Entscheidungen. Die Handlungen von System 2 sind kontrolliert, wir strengen uns an und konzentrieren uns auf etwas.
Während Sie 2 + 2 mühelos berechnen können, weil das einfach ist und weil sie das gelernt haben (System 1), fällt Ihnen die Aufgabe 17 x 24 schon schwerer. Sie könnten sie zwar ebenfalls im Kopf lösen, es dauert aber länger und erfordert Anstrengung (System 2). Sie könnten währenddessen nicht parallel ein Gespräch führen, denn Multitasking fällt uns während des langsamen Denkens schwer und irgendwann ist unser System 2 erschöpft. Das ist auch der Grund, weshalb Sie die Musik leiser drehen, wenn Sie rückwärts einparken wollen. Wenn Sie nicht gerade in einer Autowerkstatt arbeiten und tagtäglich Autos ein- und umparken müssen, ist rückwärts einparken nämlich eine System 2-Tätigkeit, die Anstrengung erfordert, weshalb Sie nicht parallel der Musik zuhören können - oder wollen, weil sie Sie ablenkt.
Das Zusammenspiel von System 1 und System 2
Wenn Daniel Kahneman in “Schnelles Denken, langsames Denken” von System 1 und System 2 spricht, dann glaubt er natürlich nicht daran, dass in uns zwei grundverschiedene Systeme getrennt voneinander existieren. Es handelt sich bei den beiden Systemen vielmehr um zwei unterschiedliche Prozesse, die in uns ablaufen und die zusammenarbeiten.
„Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige was wcthiig ist, ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems.“
Zu Beginn des letzten Abschnitts waren Sie sicherlich kurz erstaunt, aber Sie konnten den Text ohne Probleme lesen, oder? Vielleicht kennen Sie dieses Beispiel schon, doch nun können wir es mit Hilfe der beiden Systeme erklären:
Unser System 2 liest den Text gar nicht richtig. Vielmehr erkennt System 1 intuitiv die gelernten Worte, auch wenn einige Buchstaben vertauscht sind, und liefert “Vorschläge” für System 2, die dieses annimmt.
Genau so geschieht uns das im Alltag ständig: System 1 generiert automatisch und fortwährend Vorschläge für System 2; das können beispielsweise Eindrücke, Absichten und Gefühle sein. System 2 ist der “Kontrolleur” dieser Vorschläge und entscheidet darüber, ob es sie annimmt und tut dies im Normalfall auch.
Wenn es ein Problem gibt und System 1 bei einer Aufgabe ratlos ist (zum Beispiel bei der Lösung zu 17 x 24), fordert System 1 aktiv Hilfe von System 2 und es wird “konkret” nachgedacht. Das Ergebnis ist übrigens 408. Ist System 1 überrascht oder wird mit etwas Unbekanntem konfrontiert, ruft es ebenfalls System 2 auf den Plan, das dann bewusst nachdenkt.
Zwischenfazit: Gute Arbeitsteilung mit Hindernissen
System 1 ist also der Ausgangspunkt von Denkprozessen. System 2 übernimmt im Bedarfsfall. Das ist eine effiziente Arbeitsteilung, da System 1 schnell, einfach und mühelos denkt und uns den Alltag damit deutlich erleichtert.
Das Problem ist aber: System 1 denkt nicht immer logisch und es ist nicht abschaltbar. So können systematische Fehler entstehen, die wir tatsächlich alle begehen. Und das ist auch der Grund, weshalb wir uns in dieser Artikelserie mit den Erkenntnissen Daniel Kahnemans in seinem Buch “Schnelles Denken, langsamen Denken” beschäftigen. Wir wollen System 1 und 2 besser verstehen, um Fehler, die uns bei wichtigen Entscheidungen auf der Arbeit oder im Alltag Zuhause widerfahren, in Zukunft zu vermeiden - oder um uns zumindest darüber bewusst zu werden.
Der Stroop-Effekt
Das Phänomen, das dieses Bild beschreibt, nennt sich Stroop-Effekt. Er wurde bereits im Jahr 1935 von John Ridley Stroop in einer Studie erforscht. Die dazugehörige Aufgabe lautet: Lesen Sie nicht das Wort, sondern nennen Sie die Farbe, in der das Wort geschrieben ist - und zwar so schnell wie möglich. In der linken Zeile fällt das doch leicht. Für die rechte Zeile brauchen Sie vermutlich länger und müssen mehr nachdenken. Wieso?
Es entsteht ein Konflikt zwischen der automatischen Reaktion von System 1, das das Wort lesen will, und dem Willen von System 2, das die Kontrolle behalten und die Aufgabe erfüllen möchte: nämlich die Farbe sagen, in der das Wort geschrieben ist.
System 2 ist für die Selbstbeherrschung zuständig und muss die automatischen Antworten von System 1 überwinden. So verlangsamt der Konflikt von System 1 und System 2 das Gesamtsystem.
Das faule System 2
Wir wissen nun, dass System 1 immer wieder systematische Fehler begeht (es zieht zum Beispiel voreilige Schlussfolgerungen, lässt sich durch Priming beeinflussen oder überschätzt sich selbst, worüber wir im laufe dieser Artikelserie noch ausführlich schreiben werden). Und wir könnten denken: Das ist doch gar nicht so schlimm, denn es gibt ja noch System 2, um System 1 zu kontrollieren und die Fehler zu verbessern, oder?
Ja, stimmt. Aber: System 2 ist extrem faul, es nimmt am liebsten den Weg des geringsten Widerstandes und bei hoher Anstrengung, wenn wir also viel nachdenken, ist es schnell erschöpft. Das ist (mitunter) der Grund, weshalb eine Diät während einer stressigen Phase auf der Arbeit nicht funktioniert. Wollten Sie jemals bewusst auf Süßigkeiten verzichten, während ein wichtiges Projekt kurz vor der Fertigstellung stand und Sie dafür noch viel vorbereiten mussten? Die Arbeit hat in dieser Zeit eine Menge kognitiver Anstrengung von Ihnen abverlangt und Ihr System 2 dadurch so erschöpft, dass diesem die Selbstkontrolle dafür fehlte, die Diät durchzuziehen. Sie entscheiden Sich also für die Schokoladentorte und nicht für den Obstsalat, weil die Torte für System 1 einfach zu verlockend ist.
Was sich da abspielt, nennt Kahneman Selbsterschöpfung: Wenn System 2 auf zu viele Dinge gleichzeitig achten muss (das Projekt fertigstellen, nichts Süßes essen), ist es irgendwann erschöpft, sodass es nicht mehr als Kontrolleur fungiert und den Impulsen von System 1 (Schokotorte essen) eher nachgibt.
Selbstkontrolle ist möglich - aber nicht leicht
Den Impulsen von System 1 nicht nachzugeben ist natürlich möglich und eine Frage der Motivation. Dass das aber ziemlich schwerfallen kann, sieht man in diesem Video:
Ein ähnliches Experiment hat man mit Erwachsenen durchgeführt, denen
(a) ein sofortiger Gehaltsbonus angeboten wurde oder
(b) ein Bonus zu einem späteren Zeitpunkt, der dann höher ausfallen würde.
Erstaunlich viele Personen in diesem Experiment haben sich für den sofortigen Bonus entschieden! Dabei hätten sie doch nur ein bisschen länger warten müssen, um einen größeren Bonus zu bekommen.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass es Menschen gibt, die eher ihrem System 1 nahestehen und Option a wählen, und andere, die ihrem System 2 näherstehen und sich deshalb für Option b entscheiden.
Grundsätzlich gelten System 1-Menschen als impulsiver, ungeduldiger und erpicht auf sofortige Belohnung. Sie hätten den sofortigen Gehaltsbonus genommen, obwohl sie für den höheren Bonus nichts weiter hätten tun müssen als zu warten. Dieses Warten fällt aber sowohl Kindern, die vor einem Schokokuss sitzen, schwer, als auch Erwachsenen, die einen Bonus in Aussicht haben - Selbstkontrolle ist gar nicht so einfach!
System 1 und System 2 - Anwendungsbeispiele
Wie Sie sehen, sind System 1 und System 2 nicht nur in Daniel Kahnemans Buch “Schnelles Denken, langsames Denken” von Bedeutung, sondern begegnen jedem von uns regelmäßig im Alltag.
Zum Schluss sind hier noch drei Beispiele, die das Zusammenspiel beider Systeme veranschaulichen:
- Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10€. Der Schläger kostet 1€ mehr als der Ball. Was kostet der Ball?
- Wenn 5 Maschinen 5 Minuten brauchen, um 5 Geräte herzustellen, wie lange brauchen dann 100 Maschinen, um 100 Geräte herzustellen?
- In einem See breitet sich ein kleines Feld von Seerosen aus. Jeden Tag verdoppelt sich die Größe des Feldes. Wenn es 48 Tage dauert, bis die Seerosen den ganzen See bedecken, wie lange dauert es dann, bis sie die Hälfte des Sees bedecken?
Zu jeder Frage ist Ihnen vermutlich intuitiv eine Antwort eingefallen. Sie haben sicherlich gemerkt, dass irgendetwas mit Ihrer ersten Intuition nicht stimmt. Wenn Sie jedoch unter Zeitdruck stehen und schnell antworten müssen, dann werden Sie genau das sagen, was Sie im ersten Moment gedacht haben - also das, was Ihr System 1 Ihnen vorschlägt, obwohl System 2 Ihnen signalisiert, dass etwas nicht stimmt...
Notieren Sie sich Ihre erste Intuition für die Lösung der drei Fragen.
Die richtigen Antworten finden Sie nächste Woche im zweiten Artikel unserer Serie “Psychologie für KMU”, die die folgenden psychologischen Phänomene umfasst:
- Zwei Systeme, mit denen wir denken: System 1 und System 2
- Priming und kognitive Leichtigkeit
- Der Halo-Effekt
- Der Ankereffekt
- Klarer Fall von Selbstüberschätzung?